Wie die meisten von euch wahrscheinlich wissen, wird die Bahnhofsstraße 23 nicht nur von Fußballfans bewohnt. Neben VfB für Alle e.V. und der Oldenburger Fan Initiative befinden sich in dem Haus auch noch das Jugendwerk der AWO, die Trans*beratung Weser Ems, die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz und die Oldenburger AIDS Hilfe. Diese Zusammensetzung hat das Haus in den letzten Jahren zu einer ganz Besonderen in Oldenburg gemacht. Ende des Jahres werden sich leider unsere Wege trennen, da bekanntlich der Mietvertrag nach über 25 Jahren nicht verlängert wurde. Wir haben dies zum Anlass genommen, Ellen Kiebacher von der Oldenburger AIDS Hilfe über ihre wichtige Arbeit, die Auswirkungen von Corona und zu neuen Räumlichkeiten befragt.
Moin! Schön, dass du dir Zeit genommen hast, uns ein paar Fragen zu beantworten. Wie geht es euch?
Vielen Dank, dass ihr uns angefragt habt zu diesem Interview, ich freue mich immer wenn sich Menschen für unsere Arbeit und das Thema HIV/AIDS interessieren.
Seit wann gibt die AIDS Hilfe Oldenburg und was sind eure Arbeitsschwerpunkte?
Die AIDS-Hilfe Oldenburg e.V. gibt es tatsächlich schon seit 1986, damals haben sich in Oldenburg HIV/AIDS-Betroffene zusammengeschlossen und die AIDS-Hilfe als Selbsthilfeorganisation gegründet. Seit dem hat sich viel getan, aber es bleibt auch immer noch genug zu tun. In den ersten Jahren der AIDS-Hilfe Arbeit waren Pflege und Sterbebegleitung von Betroffenen ein große Themen. Das hat sich inzwischen, dank guter Therapiemöglichkeiten von HIV, verändert. Unsere Arbeitsschwerpunkte umfassen neben dem breiten Feld sexueller Gesundheit, auch sexuelle Vielfalt und sexuelle Selbstbestimmung.
AIDS-Hilfe ist sowohl für die Beratung und Begleitung HIV-positiver Menschen zuständig, als auch für die HIV-und STI (sexually transmitted infections/sexuell übertragbare Infektionen) Prävention in den sogenannten „schwer erreichbaren Hochrisikogruppen“: Männer, die Sex mit Männern haben, Drogengebraucher*innen, geflüchtete und migrierte Menschen, Sexarbeiter*innen, Menschen in Haft, Frauen etc.
In der Begleitung und Beratung HIV positiver Menschen geht esvor allem um die psychosozialen Aspekte im Bezug auf die Infektion, also Verarbeitung und Umgang mit der Infektion und darum, wie Leben, Arbeit, Partner*innenschaften und Sexualität mit HIV gestaltet werden können. Aberauch die die Schaffung von Zugängen zum Gesundheits- und Sozialsystem, sozialrechtliche Beratung bzgl. Rente, Reha, Sicherung des Aufenthaltsstatus und vieles mehr sind Teil unserer Arbeit.
In der Prävention liegt der Schwerpunkt in der Aufklärung zu Übertragungswegen und Risikomanagement wie Safer Sex oder Safer Use/ Harm Reduction (also Risiko minimierenden Drogenkonsum) um Neuinfektionen zu vermeiden.
Dazu kommen Risikoeinschätzung,Testberatung und die Begleitung bei der Testdurchführung. Derzeit bauen wir unser Selbst-Testangebot aus, damit wir in Zukunft auch Testungen auf weitere STIs anbieten können.
Darüber hinaus verstehen wir uns auch als politische Interessenvertretung, sowohl für HIV-positive Menschen als auch bezüglich unserer Zielgruppen – gerade auch, was Diskriminierung und Stigmatisierung angeht.
Wie hat sich die Coronakrise auf eure Arbeit ausgewirkt?
Corona hat uns als Verein, wie die meisten anderen wahrscheinlich auch, auf vielen Ebenen beschäftigt und betroffen. Zum Einen sind natürlich wichtige Spendengelder und Einnahmen aus Referent*innentätigkeiten und Veranstaltungen weggebrochen und wir wissen noch nicht wie wir dieses Haushaltsloch stopfen sollen. Die öffentlichen Mittel reichen nicht aus um unsere Arbeit komplett zu finanzieren, damit sind wir, wie viele soziale Non-Profit-Organisationen, existenziell auf Spenden angewiesen.
Zum Anderen ist es schwierig die niedrigschwellige Arbeit die wir machen komplett über soziale Medien aufzufangen. Viele Menschen unserer Zielgruppen haben eben nicht die Möglichkeit sich (selbstständig) zu informieren, der Zugang zum Gesundheits- und Sozialsystem fehlt hier aus unterschiedlichen Gründen.
Zum Glück konnte der Spritzentausch und auch unser HIV-Selbsttestangebot während der einschränkenden „Corona- Maßnahmen“ aufrechterhalten werden. Die Beratung und Begleitung von Betroffenen musste in den letzten Monaten ebenfalls überwiegend ohne persönlichen Kontakt stattfinden. Ausnahmen davon waren z.B. nur in einer akuten psycho- sozialen Krisensituation möglich. Das lässt sich mit etwas Aufwand auch bewerkstelligen, ersetzt aber niemals den persönlichen Kontakt, auch weil soziale Isolation für viele Menschen in unseren Zielgruppen generell ein großes Problem darstellt, dass durch „Corona“ eher verstärkt wurde.
AIDS ist nach wie vor ein gesellschaftliches Tabuthema. Wie verhält es sich diesbezüglich in Oldenburg und könnt ihr Zahlen nennen, wie viele Menschen in der Stadt an HIV erkrankt sind?
Ich glaube nicht, dass wir bzgl. des HIV/AIDS Tabu in Oldenburg und Um zu eine besondere Situation haben, vor allem, wenn ich die Situation vor Ort mit dem vergleiche, was Kolleg*innen aus anderen Regionen und Städten berichten. Allerdings macht es grundsätzlich schon einen Unterschied, ob du mit deiner HIV-Infektion auf dem Land lebst oder in einer (Groß-)Stadt.
Die AIDS-Hilfe Oldenburg ist nicht nur für die Stadt Oldenburg, sondern auch für die angrenzenden Landkreise und die Flächenregion im Umland zuständig. In diesem Gebiet finden sich durchaus sehr ländliche Regionen, da wird es schon schwierig, wenn du deine HIV-Medikamente aus der einzigen Apotheke im Ort abholen willst ohne erkannt zu werden. Sich öffentlich als HIV- positiv zu outen ist für viele unserer Klient*innen nach wie vor ein Problem und die Infektion im sozialen Umfeld geheim zu halten ist natürlich umso schwieriger, je weniger Anonymität möglich ist und je weniger Alternativen z.B. bei der Arztwahl zur Verfügung stehen.
Letztlich geht es darum die eigene Haltung zu überdenken und dem heutigen Wissensstand anzupassen, Moral- und Wertvorstellungen zu reflektieren und solidarisch zu sein. Das gilt für Menschen aus dem Dorf bei z.B. Cloppenburg ebenso wie für berliner Großstädter*innen. Ängste, Unsicherheiten und Vorbehalte gegenüber HIV zu haben ist nicht das eigentliche Problem, solange mensch bereit ist, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, sich zu Informieren und damit eben diese Vorurteile und Ängste abzubauen.
Bezüglich konkreter Zahlen muss ich Dich enttäuschen. Es gibt keine konkreten statistischen Daten dazu, wie viele Menschen in der Stadt Oldenburg mit HIV leben.
Das lässt sich statistisch so nicht erfassen. Das Robert-Koch Institut erhebt die Daten für Deutschland, die Bundesländer und einzelne Ballungszentren – Oldenburg ist da leider nicht dabei!. Allerdings arbeite ich auch nicht gerne mit Zahlen, wenn es um Menschen geht, da schwingt immer ein bisschen die Frage nach dem Wert des Einzelnen mit – ab wie vielen Betroffenen stellt HIV/AIDS ein gesellschaftliches, politisches oder sonstiges relevantes Problem dar? Für jede/n einzelne/n Betroffene/n auf jeden Fall zu 100%. Wer an konkreten Zahlen zu unserer Arbeit in und um Oldenburg interessiert ist, kann das aber gerne in unserem Jahresbericht auf unserer Homepage (www.aidshilfe-oldenburg.de) nachlesen, inklusive der Zahl an Klient*innen die wir in Oldenburg und um zu 2019 begleitet haben.
Ein positiver Test ist für Betroffene ja zunächst ein ziemlicher Schock. Was gebt ihr Betroffenen mit auf den Weg, die sich vertraulich an euch wenden?
Eine HIV Diagnose in Deutschland stellt heute kein Todesurteil mehr dar, sondern ist eine chronische Infektion, die inzwischen gut medizinisch behandelbar ist. Menschen mit HIV haben eine annähernd gleiche Lebenserwartung wie Menschen ohne HIV. Unter funktionierender HIV-Therapie ist der Virus nicht übertragbar! Das bedeutet, dass es möglich ist ein relativ normales Leben zu führen, einen Beruf auszuüben, Sexualität (ohne Kondome!) und Partner*innenschaften zu leben und auch gesunde Kinder zu bekommen.
Anders sieht das aber natürlich aus, wenn kein Zugang zum Gesundheitssystem und der dringend notwendigen medizinischen Versorgung besteht – gerade für geflüchtete Menschen ohne sicheren Aufenthaltsstatus oder Menschen ohne gesetzliche Krankenversicherung eine riesige Belastung.
Was allerdings auch gesagt werden muss ist, dass eine große Lücke klafft zwischen den medizinischen Aspekten von HIV/AIDS auf der einen Seite und der gesellschaftlichen Akzeptanz auf der anderen. Sich als HIV-positiv zu outen, ob in der Familie, in Partner*innenschaften, im Freundes- und Bekanntenkreis, auf der Arbeit oder sogar im Gesundheitssystem ist nach wie vor ein großes Problem für die Betroffenen.Es ist wirklich erstaunlich wie viele Ängste und Vorurteile in der Bevölkerung bezüglich HIV/AIDS auch 2020 in Deutschland noch bestehen.
Trotz aller Bemühungen der letzten Jahrzehnte fehlt es nach wie vor an Informationen und Wissen um Übertragungswege und Behandlungsmöglichkeiten.
Aktuell versuchen die AIDS-Hilfen bundesweit mit der Antidiskriminierungskampagne
#Wissenverdoppeln n=n (nicht nachweisbar = nicht übertragbar) verstärkt auf die Botschaft aufmerksam zu machen, dass unter medikamentöser Therapie, (wenn der Virus so weit unterdrückt wird, dass er im Blut nicht mehr nachgewiesen werden kann) HIV nicht mehr übertragbar ist!
Im letzten Jahr erreichte uns die Nachricht, dass wir nach über 25 Jahren unsere Räumlichkeiten in der Bahnhofstraße verlassen müssen. Habt ihr schon neue Räumlichkeiten in Aussicht und inwieweit erhaltet ihr Unterstützung von der Stadt?
Es ist tatsächlich sehr Schade, dass es die Bahnhofstrasse 23 in der Form, wie sie in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten bestanden hat nicht mehr geben wird. Ich habe die Zusammensetzung der verschiedenen Organisationen hier im Haus immer sehr geschätzt. Neben dem Fanprojekt des VfB und der AIDS-Hilfe sind ja auch das Jugendwerk der Arbeiterwohlfahrt, die Trans*beratung Weser Ems und die Schwestern der Perpetuellen Indulgenz davon betroffen sich neue Räumlichkeiten suchen zu müssen.
Für uns war die Nähe zum Bahnhof ein extrem wichtiges Kriterium bei der Suche nach neuen Räumlichkeiten. Die AIDS-Hilfe muss gut erreichbar sein, um möglichst vielen Menschen den Zugang zu unseren Angeboten niedrigschwellig zu ermöglichen, auch gerade bezüglich unseres Spritzentauschangebotes.
Zum Glückist es uns gelungen neue Räumlichkeiten ganz in der Nähe anmieten zu können, die für uns, mit dem doch sehr knappen Budget, auch finanzierbar sein können. Da werden wir die Unterstützung der Stadt noch brauchen. In der Bahnhofstr. hatten wir einen Mietvertrag zu sehr günstigen Konditionen, der Quadratmeterpreis lag nur knapp über 2 Euro /m2 , jetzt werden wir 8 Euro/m2 zahlen müssen, was immer noch recht günstig ist, aber diese Differenz muss auch irgendwie langfristig finanziert werden.
Ein entsprechender Antrag auf Finanzierung der Mietmehrkosten ist bei der Stadt Oldenburg gestellt – die Entscheidung steht derzeit noch aus…!?!
Bezüglich der Größe unserer Räumlichkeiten mussten wir ziemliche Abstriche machen, was leider bedeutet, dass wir in Zukunft weder der Transberatung noch den Schwestern der Perpetuellen Indulgenz weiterhin Räume zur Verfügung stellen können – was wirklich sehr schade ist!
Im Moment suchen wir noch dringend zusätzliche Lagerfläche in Bahnhofsnähe für unsere Arbeitsmaterialien und Infobroschüren, wir versuchen für jede Zielgruppe entsprechende Informationsmaterialien zur Verfügung zu stellen und das Ganze selbstverständlich mehrsprachig – da kommt einiges zusammen.
Welchen Eindruck habt ihr vom VfB Oldenburg und vor allem von uns als Fans, mit denen ihr gegenwärtig ja noch gemeinsame Räumlichkeiten teilt?
Zu Fußball und dem VfB selbst kann ich leider nicht viel sagen, da habt ihr mich ganz klar mit einer umfassenden „Bildungslücke“ erwischt… Allerdings weiß ich welch unglaubliches Potential Fußball tatsächlich hat, wenn es darum geht Menschen zusammen zu bringen und Grenzen, welcher Art auch immer, zu überwinden. Darin liegt unglaubliches Potential Rassismus, Sexismus, Homophobie, Diskriminierung und Vorurteile etc. abzubauen oder zu überwinden. Leider gehen gerade diese Werte in der öffentlichen Darstellung von Fußball und vor allem der Fanszene oft unter. Der „VfB für Alle“ und die dazugehörige Fanszene setzt aber genau dort an und fordert die viel benannten Fußballwerte von Solidarität, Respekt, Fairness etc. für ALLE! - im eigenen Verein, und darüber hinaus ein.
Für diesen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag und euer unermüdliches Engagement ein dickes Lob und ein großes Dankeschön an die Fans und den VfB für Alle!
Gibt es noch etwas, das ihr an VfB Fans und Vereinsmitglieder loswerden möchtet?
Ich hoffe natürlich, dass ihr ebenfalls neue Räumlichkeiten findet, in denen ihr eure Arbeit fortführen und in denen ihr euch wohl und heimisch fühlen könnt. Ansonsten, bleibt so wie ihr seid: solidarisch, engagiert, laut und begeistert! In diesem Sinne, wünschen wir euch eine erfolgreiche nächste Saison undviel Glück bei der Suche nach neuen Räumen.Vielleicht machen wir ja mal eine gemeinsame Aktion – würde mich freuen!
Vielen Dank für die Beantwortung unserer Fragen und alles Gute!